Wie Autistinnen & Autisten die Welt wahrnehmen
Menschen im Autismus-Spektrum werden mit zahlreichen Klischees konfrontiert. Doch wie erleben Menschen mit der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wirklich die Welt? In diesem Beitrag spricht die Betroffene Seraina offen über ihre Gefühlswelt, Schwierigkeiten in sozialen Situationen und Schmerzen durch Reizüberflutung.
Autismus & Wahrnehmung: gestörte Filterfunktion
Rund 1% aller Schweizerinnen und Schweizer lebt mit Autismus. Eine von ihnen ist Seraina V. (Name von der Redaktion geändert). Tritt sie aus dem Haus, fühlt sich die Umwelt an wie «ein Geflecht aus tausenden Eindrücken, Wahrheiten, Informationen und Erwartungen». Das ist typisch für die Entwicklungsstörung: Menschen mit der Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS, fehlt die Filterfunktion, ihr Gehirn kann wichtige von unwichtigen Informationen kaum unterscheiden, was zu Reizüberflutungen führt.
Autismus-Symptome
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Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion:
Autistinnen und Autisten haben Probleme damit, ihre Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken sowie Mimik oder Gestik des Gegenübers zu verstehen. -
Beeinträchtigte Kommunikation oder Sprache:
Einige Betroffene tun sich schwer mit dem Erlernen und Verstehen von Sprache, haben Schwierigkeiten damit, sich zu artikulieren oder sprechen wenig bis gar nicht. -
Wiederholte, stereotype Verhaltensweisen:
Menschen mit ASS haben oft ein intensives Interesse an spezifischen Themen oder Objekten. Sie halten sich an festgelegte Routinen und befolgen bestimmte Rituale zur Selbstregulation, sogenanntes «Stimming» wie Zählen, Wippen oder Hände flattern.
Eine Störung mit unterschiedlichen Ausprägungsformen
Autismus ist keine Krankheit, sondern eine angeborene Besonderheit, die in verschiedenen Formen auftreten kann. Am bekanntesten sind der frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom und der atypische Autismus. Die Ausprägungen können unterschiedlich sein, weshalb sich der Begriff «Autismus-Spektrum» in der Fachsprache etabliert hat. Es gibt nicht «den Autisten» oder «die Autistin». Menschen mit ASS sind einzigartig wie wir alle.
Leben mit Autismus: Reizüberflutung als ständige Begleiterin
Neurotypische Menschen können sich kaum vorstellen, wie es ist, in einer Welt zu leben, die einen permanent überfordert. Zuweilen muss es sich anfühlen, als einzige unter einem löchrigen Regenschirm zu stehen, während alle anderen vor der Nässe geschützt sind. Serainas Wahrnehmung von Reizen passt zu dieser Metapher: «Alles prasselt auf mich ein und überflutet mich, wenn ich nicht aufpasse. Geräusche zum Beispiel.»
Wenn Lärm & Licht schmerzt
Viele Menschen mit Autismus sind – genauso wie Seraina – sehr lärmempfindlich: «Bin ich an einem ruhigen Ort und höre laute Geräusche, ist es, als würden sie die ganze Stille verseuchen. Die Lautstärke an sich ist zweitrangig, der Störfaktor ist das, was mir am meisten Mühe macht.» Was für andere lediglich ein Geräusch ist, löst in ihr körperliche Schmerzen oder Wut aus. Geräusche sind für Seraina oft nicht «nur» laut, sondern «zu» laut und Licht nicht «nur» hell, sondern «zu» hell. Durch Hilfsmittel, wie einer Kollektion aus 10 Sonnenbrillen in verschiedenen Tönungsgraden und Noise-Cancelling-Kopfhörern, versucht die junge Frau, die Umwelt erträglicher zu machen.
Wie fühlen sich autistische Menschen?
Die Wahrnehmung von Autistinnen und Autisten unterscheidet sich von neurotypischen Menschen. Aber welche Abweichungen gibt es in Bezug auf das Innenleben? Diese Frage ist aus 2 Gründen kaum zu beantworten:
- Erstens erleben wir Emotionen ohnehin ganz individuell, egal, ob autistisch oder nicht.
- Und zweitens ist es nahezu unmöglich, etwas, was uns ausmacht, verständlich zu erklären. Um es mit den Worten des französischen Schriftstellers Jean Genet zu sagen: «Wer in einem brennenden Haus aufwächst, weiss nicht, dass es bei anderen nicht brennt.» Dementsprechend schwer fällt es Seraina, ihr Innenleben zu beschreiben. Sie kennt es nicht anders.
Bauchgefühl in sozialen Situationen
Ohnehin scheint der Umgang mit ihr als Mensch, der nicht der «Norm» entspricht, ihre Gefühlswelt stärker beeinflusst zu haben als der Autismus selbst: «Ich habe viel weniger Zugriff auf mein Bauchgefühl, weil sich mein innerer Kompass schon von klein auf als falsch herausgestellt hat. Wenn du ständig hörst, dass dein Erleben, deine Empfindungen, deine Denkweise, deine Lösungsansätze etc. falsch sind, kannst du deinem Kompass irgendwann nicht mehr vertrauen.»
Schwierigkeiten bei der Deutung von (non-verbalen) Signalen
Seraina hat gelernt, Körpersignale und Intuition zu ignorieren, orientiert sich stattdessen an Regeln oder objektiven Tatsachen. Doch Tatsachen können sich ändern und Regeln unterschiedlich ausgelegt werden. Das bringt für Seraina Schwierigkeiten mit sich, wie sie erklärt: «Wir werden als unempathisch und unflexibel wahrgenommen. Wir sind die, die nicht verstehen, wenn etwas nicht wörtlich gemeint ist.»
Herausforderungen in der Kommunikation
Das macht auch die Kommunikation mit anderen Menschen zur Herausforderung. Gespräche empfindet Seraina als ermüdend, da sie ständig damit beschäftigt ist, das Gesagte einzuordnen. Unterhaltungen mit neurotypischen Menschen fühlen sich für sie an, «als würden Hund und Katze versuchen, miteinander zu kommunizieren. Wir sprechen einfach nicht dieselbe Sprache. Und das ist okay.»
Podcast mit Autistin Maria Zimmermann
Auch in unserem Podcast «Hallo Gesundheit» haben wir uns mit einer Person im autistischen Spektrum unterhalten. Maria entdeckte erst mit 29, dass sie autistisch ist. Zuvor hatte sie etliche falsche Diagnosen erhalten. Warum die späte Entdeckung kein Zufall ist und was sie ausgelöst hat – davon erzählt Maria.
Therapie kann helfen, sich selbst zu akzeptieren
Durch das Wissen um ihre Autismus-Spektrum-Störung hat Seraina gelernt, dass sie nicht «falsch» und andere Personen «richtig» sind. Genau darauf zielen Unterstützungsmassnahmen für Menschen mit Autismus wie die kognitive Verhaltenstherapie oder spezielle Coachings ab. Darauf, die eigene Besonderheit anzunehmen und individuelle Stärken zu erkennen. Und auf das Erlernen von Strategien, um besser in einer Welt zurechtzukommen, die nicht für sie geschaffen wurde.